Chris Wares labyrinthische Comics

Zuerst veröffentlicht in: Monika Schmitz-Emans/Christian A. Bachmann (Hg.): Labyrinthe als Texte. Texte als Labyrinthe. Bochum: Bachmann 2009, S. 157–162.

Der amerikanische Comicautor Chris Ware gilt als einer der großen zeitgenössischen Erneuerer des Mediums, was in der Zahl seiner Auszeichnungen deutlich zum Ausdruck kommt – darunter neun Eisner Awards und ebensoviele »Harveys«. Die Ausstellung Masters of American Comics (2007/2008) des Jewish Museum in New York stellte den 1967 geborenen Zeichner neben einflussreiche Vorreiter wie Will Eisner, Jack Kirby und Robert Crumb. Zu Wares bekanntesten Titeln gehört die seit 1993 unregelmäßig erscheinende Serie The Acme Novelty Library und die zunächst in Teilen in dieser Serie veröffentlichte Graphic Novel Jimmy Corrigan, the Smartest Kid on Earth.

Comics galten lange – und dies trifft auch heute noch teilweise zu – ausschließlich als Konsumgut mit niedriger Einstiegsschwelle, geringem narrativen und zweifelhaftem ästhetischen Anspruch. Chris Ware unterläuft diese überkommene Meinung, indem er die Lesbarkeit seiner Comics bewusst erschwert. Dies geschieht aber meist nicht durch kryptische Zeichnungen, die Überlagerung und Durchsetzung zu vieler Erzählstränge oder unverständliche, etwa den Bildern widersprechende Texte – im Gegenteil, sein Stil ist so klar wie prägnant, plots und storys sind leicht verständlich und die Textanteile orientieren sich meist an der amerikanischen Alltagssprache. Dass die Lektüre der Geschichten dennoch Geduld erfordert, liegt an einer spezifischen medialen Eigenschaft der Comics, die der Autor ausnutzt.

Die meisten Kommunikationsmedien sind, in unterschiedlichem Maße, ohne Kenntnis der Regeln und Bedingungen, die sie strukturieren, zumindest auf basaler Ebene verständlich. Film und Fernsehen sind beispielsweise sehr intuitiv rezipierbar. Die Schrift in der Texte geschrieben sind, und die ›Bilderschrift‹, in der Comics abgefasst sind, bedürfen dagegen unbedingt eines Vorwissens und der Einübung in ihre Verwendung. Scott McCloud hat 1993 in dem einflussreichen Sach-Comic Understanding Comics – The Invisible Art die Bedeutung der Leerräume zwischen den Panels (=Einzelbilder) betont. Panels zeigen immer nur Ausschnitte aus der Erzählung. In den Zwischenräumen, so McCloud, vervollständigt der Leser die Erzählung durch schlussfolgerndes Ergänzen der diegetischen Lücken. Der Untertitel The Invisible Art bezieht sich auf dieses Phänomen – was den Comic als Medium einzigartig macht, ist nicht primär die hybride Mischung von Text und Bild, sondern das Unsichtbare zwischen den Bildern. McCloud identifiziert sechs Typen von Übergängen zwischen zwei Panels: es können (1) zwei direkt aufeinander folgende Augenblicke gezeigt werden (moment-to-moment), (2) zwei kausal verknüpfte Handlungen dargestellt sein (action-to-action); es kann (3) von einem Subjekt einer Szene zu einem anderen (subject-to-subject) und (4) von einer Szene zu einer anderen (scene-to-scene) oder (5) von einem Blickwinkel zu einem gleichwertigen anderen (aspect-to-aspect) gewechselt werden. Schliezlich kann es (6) einen unmotivierten Übergang geben (non sequitur).[1] Der Ergänzungsaufwand des Lesers wird größer, je weniger offensichtlich der Zusammenhang zwischen zwei Bildern ist.

 McClouds statistischen Untersuchungen zufolge kommt der Übergang von moment-to-moment in amerikanischen und europäischen Comics prozentual am häufigsten vor, während subject-to-subject- und scene-to-scene-Übergänge signifikant seltener, die anderen Typen so gut wie nie anzutreffen sind.[2]

Schon ein flüchtiger Blick auf die ersten Seiten von Jimmy Corrigan offenbart, dass hier mit gängigen Erzähltechniken gebrochen wird. Zwar geht auch in Jimmy Corrigan die Mehrzahl der Panels von Handlung zu Handlung über, doch gibt es eine unerwartet hohe Zahl von Übergängen, die nur winzige Momente überbrücken oder verschiedene Aspekte eines Augenblicks zeigen. Leser westlicher Prägung, die den Comic treu der erlernten Konventionen lesen, werden von dieser ungewohnten Erzähltechnik, die die Handlung im Vergleich zu den meisten ›gewöhnlichen‹ Comics stark retardiert und das Verstehen erschwert, zu einem bewussten Umgang mit der Abfolge der Panels und ihren Übergängen bewegt.

Offenkundig wird dies schon in der Eingangssequenz: Die erste Seite füllt ein einzelnes größtenteils schwarzes Panel, das einen winzigen blaugrauen Fleck in Mitten kleiner Sterne zeigt, der sich im zweiten Panel des Comics als Bild des Planeten Erde entpuppt. Das folgende dritte Panel zeigt wiederum die Erde aus einem etwas anderen Winkel (ob sich der Blickwinkel verändert, oder der Planet sich gedreht hat, ist nicht eindeutig zu sagen, hier stößt McClouds Typologie an ihre Grenzen) und eine Sprechblase. Das vierte Panel zeigt eine größere Darstellung des Planeten. Es folgen drei kleinere Bilder, die die Annäherung an eine nordamerikanische Großstadt zeigen. Allerdings scheinen die gezeigten Hochhäuser auf der Seite zu liegen. Das folgende Panel, das ein einzelnes Haus zeigt, legt dann auch nahe, das Buch zu drehen, denn die Sprechblase darin ist gegenüber der im zweiten Panel um 90 Grad gedreht. Diese Drehung stellt aber rückwirkend die bisher eingeschlagene Leserichtung in Frage. Umsomehr, weil nach der Drehung die drei kleinen Panels, nun von links nach rechts, nicht von oben nach unten gelesen, jetzt eher eine sich entfernende Stadt zeigen. – Solche und ähnliche Verkehrungen der Leserichtung und der Orientierung des Buches finden sich auch an anderen Stellen. Besonders die Versuche, kausale Beziehungsketten zu beschreiben, stehen dabei hervor. Wenn Ware zeigt, dass in einer Kommodenschublade Jimmys ein Photo liegt, das einmal ihn selber und seine Eltern zeigte, jetzt aber nur noch ihn und seine Mutter, legt der Zeichner dies als komplexes Arrangement von Beziehungen an. Ein bestimmter Moment (»now«) wird als markantes Bild in einer Kette von Bildern – d.h. in einem Comic! – gezeigt, an das sich eine Kette von ineinander übergehenden Bildern anschließt, die die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen darstellen.

Der Comic beschränkt sich allerdings nicht auf die Ebenen zweidimensionalen Erzählens, sondern greift aus ins Dreidimensionale. So enthält das Buch den Bausatz eines Zoetrops, das an der Schwelle zwischen Comic und Animationsfilm steht. Als Bildmedium, das durch die Geschwindigkeit der Drehung in Zusammenspiel mit der Trägheit des menschlichen Auges Bewegung vortäuscht, ist es dem Film verwandt – und als Papierobjekt, das Bewegung in einzelne Phasen zerteilt, ist es ebenso eng dem Comic verbunden. Das Zoetrop ist aber keine bloße Zugabe. Die Bauanleitung wird zunehmend von fremden, auf das Innenleben des Protagonisten verweisenden Textteilen durchsetzt, wodurch sie als Anleitung ihre Funktion verliert, als Bestandteil der Diegese aber an Bedeutung gewinnt.

Ein weiterer Bausatz, hier für eine Figur des Protagonisten Jimmy Corrigan, findet sich auf dem Umschlag des Buches. Der geschickt gefaltete Schutzumschlag, der zum Werk gerechnet werden muss, zeigt darüber hinaus auf der nach außen zeigenden Seite weitere Szenen aus Jimmys Leben, und auf der innen liegenden eine komplexe Topographie der Handlungsorte, die im wörtlichen Sinne entfaltet werden muss.

Die Transgression des zweidimensionalen Raums bestimmt auch das von Ware gestaltete Brettspiel Fairy Tale Road Rage (dt. Märchen Rallye) in Art Spiegelmans Anthologie Little Lit. Folklore & Fairy Tale Funnies.[3] Wer die Spielsteine aus dem Buch trennt und zusammenbastelt, kann im Spielen Geschichten hervorbringen. Dabei folgen bis zu vier Spieler verschlungenen, teils gegenläufigen Pfaden ohne ein gemeinsames Ziel. Sie sammeln Spielmarken, die, auf einer »Storyboard« genannten Spielkarte angeordnet, eine skurrile Lebensgeschichte der Spielfigur ergeben.

Dem Spiel beigefügt sind eine knappe Anleitung »nur für Erwachsene« und eine ausführliche Anleitung »nur für Kinder«, die beide mit den Konventionen von Brettspielanleitungen spielen, außerdem zwei Comics. Der erste der beiden Comics, er ist lose in die Anleitungen integriert, spottet dem Umgang von Sammlern mit Comics, die selbstverständlich keine Teile aus einer Anthologie »mit enorme[m] Sammlerwert« heraustrennen würden. Im zweiten Comic treten die vier Spielfiguren auf. Der Comic ist in vier Teile gegliedert, die in Form eines Windrads um ein zentrales Feld angelegt sind, das den Ausgangspunkt für jede Geschichte bildet. Es enthält außer dem Text »Es war einmal« vier Pfeile, die anzeigen, wo die Lektüren der Geschichten begonnen werden können. Möglich ist aber auch eine Lektüre, die eine Geschichte als Einstieg wählt und dann gegen den Uhrzeigersinn den anderen Geschichten folgt. In jedem Fall muss das Buch mehrmals gedreht werden.

Ware analogisiert in dem Brettspiel (wie Freud) die Kulturpraktiken ›Spielen‹ und ›Erzählen‹. Aus diesem Blickwinkel deutet der Titel des Spiels – road rage meint stressbedingte Aggressionen im Straßenverkehr, zu denen Wutausbrüche genauso gehören wie gezielt herbeigeführte Kollisionen – darauf hin, dass Probleme beim Erzählen von Geschichten auftreten, wenn sich nicht alle Beteiligten an die Regeln halten.

Seine Comics lassen den Leser durch solche Regelverletzungen mit der Diegese ›kollidieren‹. Der Autor ist sich diesen Herausforderungen nicht nur bewusst, er inszeniert sie. So ist auch Jimmy Corrigan eine Anleitung vorangestellt, die den Umgang mit Comics erläutert. Was sie aber nicht erläutert, ist der Umgang mit dem vorliegenden Comic, der gerade nicht (nur) nach den Konventionen funktioniert.

Chris Ware wird so zum Dädalus, der den Lesern seiner desorientierenden Comic-Texte die Aufgabe stellt die Comics lesend, auf der Suche nach der ›richtigen‹ Bildabfolge abzuschreiten wie ein Labyrinth. Wenn nicht geradewegs zerschnitten, so ist der Ariadne-Faden der Konvention, der sicher durch einen Comic führen sollte doch zumindest zerfasert. Und diese Fasern wollen einzeln aufgelesen und versponnen werden. Die Funktion dieser Transgressions- und Desorientierungsstrategien liegt – abgesehen von dem gesteigerten Lesevergnügen des reflektierten Lesers – in der Bewusstmachung der medialen Bedingungen des Comics. 

[1]Für eine ausführliche Diskussion dieses Konzepts und seiner Probleme bleibt hier kein Raum, es sei auf McClouds Buch verwiesen: Understanding Comics. The Invisible Art. New York: HarperCollins, Kap. 3, insbes. S. 70–72, 74.

[2]McCloud differenziert zwischen westlichen Comics und japanischen Manga, die eine deutlich größere Zahl von Aspekt-zu-Aspekt- und Moment-zu-Moment-Übergängen aufweisen. Vgl. ebd., S. 74–81. Er hebt außerdem hervor, dass es experimentelle Comics gibt, die sich nicht schematisieren lassen.

[3]Little Lit. Märchen und Sagen. Hrsg. von Art Spiegelman u. Françoise Mouly. Hamburg: Carlsen Comics 2001, vorderer und hinterer Vorsatz.