Zuerst veröffentlicht auf www.civitasurbana.com am 24. Juni 2013
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Fritz Mauthner schreibt in seinen Beiträgen zur Kritik der Sprache neben vielen anderen Sprachen und Dingen auch von Zeigefingersprachen (BKS II: 571). Er meint damit unterkomplexe Sprachen, die ausschließlich über Zeichen verfügen, bei denen Signifikant und Signifikat in einer Eins-zu-eins-Beziehung zueinander stehen. Zeichen also, die wie ein zeigend ausgestreckter Finger funktionieren, die das da, das eine vor Augen stehende bezeichnen. Sprachen dieser Art, wenn man sie überhaupt als Sprachen bezeichnen kann, eher handelt es sich wohl um eine prähistorische beziehungsweise kindliche Vorstufe, aus denen sich dann komplexer Sprachgebrauch entwickeln kann, haben nur eine sehr geringe Zahl möglicher Propositionen. Vor allem aber fehlen der Sprache abstrakte Begriffe mit denen die Formulierung komplexer Zusammenhänge erst möglich wird und die uns als Sprecher von einer unüberschaubaren Zahl von Wörtern, nämlich so viele, wie es Dinge in der Welt gibt, schützen. Eine Schriftsprache kann eine solche Zeigefingersprache nicht ausbilden, denn sie müsste die Zahl der akustischen Zeichen visuell verdoppeln. Die chinesische Schrift kennt rund 90000 Zeichen. Eine unwahrscheinlich hohe Zahl, die beherrschen zu lernen viel Zeit und Mühe kostet (weshalb sie sich gut eignet, um eine Gesellschaft zu hierarchisieren). Filialen der abgewickelten Drogeriemarktkette Schlecker führten zu Hochzeiten 100000 Artikel; wenn von jedem Artikel nur 10 Exemplare vorhanden waren, bräuchte unsere Zeigefingersprache 1 Million distinkte Zeichen. Unmöglich, so eine Sprache zu erlernen; jeder Wissenszugewinn stellt für das Gedächtnis eine katastrophale Schwemme neuer Zeichen dar. Zum Vergleich: Das Deutsche verfügt, je nachdem was man zählt, über rund 40 Phoneme, aus denen sich nach bestimmten Regeln mehrere hunderttausend Wörter zusammensetzen lassen, von denen aber lediglich ein paar Tausend im Alltag benötigt werden. Möglich ist das, weil mit dem abstrakten Zeichen ›Baum‹ jeder existente und denkbare Baum bezeichnet werden kann. Ohne Abstrakta geht es also nicht, wie Mauthner zu Recht betont.
Die europäischen Sprachen verfügen dank der alten Griechen über die bescheidene Zahl von (im Wesentlichen) drei Konsonanten und Vokale abbildenden Alphabeten: Griechisch, Lateinisch und Kyrillisch, von denen erstere, obschon sie die anderen beiden gezeugt hat, lediglich eine mediterrane Marginalie ist. Die Schriftsprachen haben den gesprochenen ein Gesicht gegeben, dadurch aber auch ihre Zeichenzahl aber deutlich vermehrt (nicht bloß verdoppelt, so einfach und geradlinig ist das Abbildungsverhältnis nicht). Mit der Zeit wurden die Schriftsprachen immer eigenständiger und ihre Veränderungen haben in der Folge in die Verbalsprachen rückgekoppelt (vgl. BKS II: 570). Gelegentlich stolpern wir über Wörter, die das greifbar machen. Manche Eigennamen zum Beispiel. Ohne Kontextwissen wird aus Walter Benjamin schon mal ein Engländer und wie sich der Nachname des südafrikanischen Literaturnobelpreisträgers J.M. Coetzee ›richtig‹ ausspricht, ist den meisten Nicht-Südafrikanern ein Rätsel (übrigens spricht er sich nicht so, wie man meint) – obwohl sie ihn mit Leichtigkeit ›lesen‹, können sie ihn nicht ›vorlesen‹. »Diese Vorstellung, daß nämlich Schrift in ihrer höchsten Ausbildung selbständig geworden sei und die mündliche Sprache gar nicht mehr brauche,« so Mauthner, »ist aber gar nicht so phantastisch, wie es scheine könnte« (BKS II: 553). Gerade im Gegenteil: »Daß aber die Schrift besonders seit der Popularisierung der Buchdruckerkunst langsam aufgehört hat, eine bloße Nebenerscheinung der Lautsprache zu sein, daß die Schrift, wenn wir unsere Bibliothek unter dieser Bezeichnung zusammenfassen wollen, sich in den Gelehrtenköpfen von der Lautsprache gewissermaßen schon emanzipiert hat, das ist eine psychologische Tatsache« (BKS II: 553).
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Die Firma Swype, die inzwischen von Nuance Communications übernommen wurde, hat 2008 eine neue Eingabemethode für alphanumerischen Code vorgestellt, »a faster and easier way to input text on any screen« (Homepage http://www.swype.com/category/about/). Die Swype genannte Technologie erlaubt es auf einer graphisch dargestellten, virtuellen Tastatur statt die Tasten einzeln anzuschlagen, sie mit dem Finger in einer kontinuierlichen Linie (»path«) nachzuzeichnen. Der Swype-Algorithmus speichert die virtuell berührten virtuellen Tasten, ihre Reihenfolge und ihre direkte Umgebung, gleicht die Buchstabenkette mit einem Wörterbuch ab und unterbreitet basierend darauf Wortvorschläge mit überraschend hoher Trefferwahrscheinlichkeit.
Entwickelt hat Swype Cliff Kushler, der 1998 schon text on 9 keys (T9) eingeführt hat. Eine große Schwäche des Mobiltelefons bestand lange darin, nur wenig mehr als die zehn Tasten zu besitzen, die für das dezimale Telefonnummernsystem erforderlich sind. In seiner minimalistischsten Form hat das russisch-kyrillische Alphabet 30 Zeichen (wenn man auf die Unterscheidung von e und ë sowie auf die Palatalisierungszeichen verzichtet), das lateinische 26, das griechische immerhin 24. Diese Buchstaben über 9 Tasten des Nummernblocks zu verteilen war immer nur eine Notlösung, die spätestens seit der Verbreitung der SMS seit dem Ende der 1990er Jahre nach Abhilfe verlangte. Kushlers T9 hat durch die Anbindung an ein Wörterbuch die Zahl der notwendigen Tastendrücke drastisch reduziert, und so die verlangsamte Schriftkommunikation wieder beschleunigt.
Die Eingabeweise ist unter Verwendung von T9 im Wesentlichen die gleiche wie ohne: reale Tasten müssen gedrückt werden. Eingabemethode und generierte Zeichen bleiben einander ähnlich: sie sind diskret und diskontinuierlich. Die jüngere Swype-Technologie unterscheidet sich entscheidend dadurch, dass nur noch die virtuellen Tasten und die tatsächlichen Schriftzeichen diskrete Einheiten sind, während die Eingabeweise nun kontinuierlich ist. Zumindest zu einem gewissen Teil, denn zwischen den Wörtern sind weiterhin Leerintervalle nötig. Vilém Flusser hat postuliert, dem Menschen sei »[e]in ununterbrochener Schreibduktus […] selbst nach Überwindung der materiellen, objektiven Schreibbremsen nicht möglich. Die Rechtschreibregeln […] sind ›Kalkulationen‹, das heißt, sie verlangen nach Intervallen zwischen den Zeichen. […] Die Geste des Aufschreibens ist ›staccato‹, weil der Schreibcode selbst körnerförmig (›distinkt‹) ist« (1992: 21). Die Schreibmaschine, um deren Erfindung sich im 19. Jahrhundert viele Geister bemühen, hat demnach mit ihrer Tastatur nicht nur »mit der Schnelligkeit der menschlichen Stimme wetteifern können« (Anon. 1829: 965), sondern auch ein dem Produzieren diskreter Zeichen äußerst angemessenes Verfahren installiert.
Flusser spekulierte Ende der 1980er Jahre, in einer Zeit, in der es durchaus noch viele Büros und noch mehr Haushalte gibt, die nicht über elektronische Datenverarbeitungsgeräte verfügen, über das Ende der Schrift: »Man ging vom Bild zur Schrift, diese wurde vorherrschend, kam in eine Krise, wurde durchbrochen, und nun steht man jenseits der Schrift, in einer neuen Einbildung, in der wir uns erst zu üben haben.« (1988: 4f.) Die Schrift, wie wir sie kennen, so Flusser, wird »von anders strukturierten Codes verdrängt zu werden« (1988: 7). Flusser stellt sich darunter nonlineare audiovisuelle Codes vor, dargereicht von Technologien, »die jeden gewünschten Informationsabschnitt als tönende Bilder werden aufleuchten lassen, um ihn dann automatisch von verschiedenen Seiten her zu überprüfen und bis in seine letzten Konsequenzen abzuleiten« (1992: 85). Mit solchen Geräten könnten man zugleich, wie schon Mauthner am Beispiel des Phonographen überlegt, zu einer »minder fehlerhaften, zu einer natürlichen Schrift« (BKS II: 558) kommen, eine Schrift, die die gesprochene Sprache adäquater repräsentiert.
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Man kann Kushlers Swype-Technologie als einen Schritt in Richtung der Ablösung der Schrift durch andere Codes verstehen. Zumindest reformiert sie die Eingabe der Zeichen. Sie bewirkt aber nebenbei noch etwas anderes. Weil die Tastatur nicht mehr materiell, sondern bildlich-virtuell ist, kann sie in der Art eines Ouija-Bretts verwendet werden; die Finger bleiben gleichsam nicht mehr an den Tasten hängen. Den Wörtern werden dadurch Pfade auf der Tastatur zugewiesen, die Buchstaben sind dabei nur noch Wegmarken. Als vielfach wiederholte sensomotorische Abläufe prägen sich diese dem Gedächtnis sehr schnell und nachhaltig ein. In der gleichen Weise, in der Kinder Buchstaben schreiben lernen, indem sie sie zunächst mit den Fingern nachfahren, kann man nun ganze Wörter und Sätze schreiben. Hundert Jahre später bewahrheitet sich so eine Überlegung Mauthners, dass nämlich »unsere schriftlichen Sprachen […] dereinst zu Wortbildern zusammenschießen« (BKS II: 569).
Denn es ist prinzipiell keineswegs zwingend, dass das Tastatur-Hintergrundbild in Zukunft angezeigt wird. Das einzelne Wort kann Geste werden, die der Verteilung von Buchstaben auf einer virtuellen Karte als Anhaltspunkte nicht mehr bedarf. So wären wir einige Tausend Jahre nach der glücklich von Bilderschriften abgelösten Alphabetschriften dank digitaler Technik wieder beim Bild angekommen – und mehr noch: bei einer Zeigefingerschrift der Gesten.
Literatur
Anon.: Nachrichten aus dem In- und Auslande. In: Münchener Tagsblatt Nro. 229 (21. August 1829), S. 964–966.
Flusser, Vilém: Krise der Linearität. Vortrag im Kunstmuseum Bern, 20. März 1988. Bern 1992.
Flusser, Vilém: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Frankfurt a.M. 1992.
Mauthner, Fritz: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Zweiter Band: Zur Sprachwissenschaft. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1982 (zuerst 1901–1902/1906–1913) [= BKS II]. Online unter http://www.textlog.de/mauthner.html
http://www.swype.com (Stand: 18.06.2013)