Zuerst veröffentlicht auf literaturundfeuilleton.wordpress.com, 27. Oktober 2013.
Nach drüben!, Simon Schwartz’ autobiographischem Erstling, widmet er sich in seinem zweiten Comic in Buchlänge einem historischen Thema. Er führt einen boy an die Grenzen des Erträglichen und lässt den Leser dabei frösteln.
Die Erde ist bekanntlich eine Kugel. Aber das stimmt natürlich nicht, eigentlich hat sie eher die Form einer Orange. In unserer idealisierenden Vorstellung ist sie dennoch eine Kugel. Mathematisch kann man eine ideale Kugel beschreiben als die Menge aller (unendlich vielen) Punkte, die von einem Punkt P den Abstand r haben. So gesehen sind alle Punkte einer Kugel gleichwertig. Die Erde ist also schon deshalb keine Kugel, weil die Punkte auf ihrer geologisch und politisch zerklüfteten Oberfläche keineswegs gleichwertig sind. Seit man ihr einen Netzmantel aus Gradlinien übergeworfen hat, besitzt der Planet ein eindeutiges Oben und ein eindeutiges Unten. Oben ist da, wo Europa und die USA liegen, unten da, wo sich Afrika und Südamerika erstrecken. Plötzlich (spätestens aber, seit die Internationale Astronomische Union es so festgelegt hat) hatten auch alle anderen Planeten und alle anderen Sonnen eine klare Ausrichtung. Auf den Planeten sind manche Punkte besonders wichtig. Das sind zum Beispiel die unendlich vielen Punkte, die auf dem Äquator liegen (etwas weniger als auf der Kugeloberfläche). Wenn man sie überquert, wird man getauft und also ein neuer Mensch. Bei 90 Grad Nord liegt der Nord-, bei 90 Grad Süd der Südpol, zwei ganz besondere, weil einzigartige Punkte, die noch bis in die jüngste Zeit zu gewagten Taten herausforderten. Anfang des 20. Jahrhunderts waren die meisten Teile der Welt erforscht oder zumindest bereist, doch die Pole entzogen sich noch, trotzdem immer wieder Expeditionen unternommen wurden. Am 6. April 1909 will Robert Edwin Peary als erster Mensch den Nordpol erreicht haben. Sein Begleiter, der Farbige Matthew Alexander Henson, ist der Protagonist von Simon Schwartz’ Packeis.
Vom Regen in die Traufe
Schwartz erzählt uns das Leben seines Henson von der Zeit als zwölfjähriger Schiffsjunge des Dreimasters Katie Hines bis zu seiner Pensionierung um die Jahrhundertmitte. Sein Henson ist es, insofern sich Schwartz nicht sklavisch an die historischen Fakten hält, sondern sie abwandelt, wo es der Geschichte förderlich ist. Der Comic, das sei deutlich gesagt, ist keine akkurate Biographie und will dies auch nicht sein. Nach einigen Jahren und gemeinsamen Reisen in große Teile der Welt verstirbt der Kapitän des Handelsschiffs, der Henson ein strenger aber gerechter Lehrer war. Von einem jungen Peary, Offizier der US-Navy, als Diener angeheuert, verschlägt es den Seemann Henson ausgerechnet in den tropischen Regenwald Mittelamerikas. Peary soll dort als Ingenieur die Arbeiten am späteren Panama Kanal vorantreiben. Peary zieht es aus der Hitze der Tropen zum nördlichsten Punkt der Erdkugel. Henson, der sich im Dschungel bewiesen hat, wird ihn 1909 auf die Expedition begleiten. Letztlich wird es Henson sein, der die Expedition zum Erfolg führt und Peary das Leben rettet. Das ist kein Geheimnis, man kann es in den Geschichtsbüchern nachlesen oder Dokumentationen darüber anschauen.
Die Stärke von Schwartz’ Buch liegt nicht darin, diese Geschichte der Heldentat eines Entdeckers für die Nachwelt zu konservieren. Was das Buch ausmacht, ist die Gegenüberstellung zweier Perspektiven. Die Geschichte um Henson, Peary, ihre Mitstreiter und Gegenspieler, ist nur Teil der Geschichte der Welt, wie die Inuit sie erzählen. Schwartz schenkt ihr viel Raum und einen eigenen Stil, der sich eindrucksvoll abhebt. Auch für die Inuit ist der nördlichste Punkt der Erde ein bedeutsamer, denn dort lebt Tahnusuk, der Teufel. Die Inuit verstehen nicht, warum die weißen Männer, die Oopernadeet, den Teufel zu finden trachten. Und noch mehr verwundert sie das Erscheinen eines dunkelhäutigen Menschen. Sie erkennen in ihm Mahri Pahluk, den einzigen, der je den Teufel besiegen wird. So lakonisch der Ton ist, in dem diese parallele Geschichtsschreibung erfolgt, so fantastisch sind die Zeichnungen, die Schwartz dazu findet.
Reise zu den Geistern
In der Vorstellung der Inuit ist die Arktis voll von den Geistern der Toten. Heulend jagen sie in gewaltigen, dichten Scharen durch das Land, das dem Europäer als Eiswüste erscheint. Nur besonders begabte Menschen, die Schamanen, können sie sehen und ihren Sippen, die nur das Heulen und Brausen vernehmen, von ihnen berichten. Als Europäer kann man das bei Canetti nachlesen, der davon in Masse und Macht schreibt, um seine These zu stützen, menschliches Leben sei bestimmt von Massen, die die Welt ausfüllen. Der Europäer weiß von der Masse der Geister nichts, er sieht nur die Masse des Landes. In der Arktis breitet sie sich vor ihm als endloses Eis aus, das den Blick so mächtig ergreift, dass es die Augen blenden kann. Packeis, das Simon Schwartz’ Comic den Titel gibt, ist eine der größten einförmigen Landmassen der Welt. Das ‚ewige‛ Eis nimmt eine Zwischenstellung zwischen dem Meer und der Wüste ein. Es ist beinahe so glatt wie das Meer, mit dem es auch das Element gemeinsam hat, dabei aber einigermaßen fest und begehbar wie die Wüste. Man kann den Nordpol mit Mühe zu Fuß aufsuchen, doch in Besitz nehmen lässt er sich genauso wenig wie eine Welle oder Düne, denn das Eis bewegt sich immerzu. Warum trotzdem unter Lebensgefahr dorthin reisen? Wohin denn sonst, wenn alles andere schon entdeckt ist? Um den Ruhm zu erobern, der mit seiner Entdeckung verbunden ist. Doch Henson ist der farbige Helfer des weißen Entdeckers. Er kann den Pol noch weniger in Besitz nehmen als Peary. Ihm steht nicht einmal der Ruhm offen.
Das ist das Thema eines weiteren Handlungsstrangs, der uns Henson viele Jahre später zeigt. Er ist immer noch bloß ein Hilfsarbeiter, dem einsame Jahre in Rente bevorstehen. Zwar werden seine Verdienste offiziell anerkannt, er erhält eine Medaille, doch er ist immer noch der Farbige in den USA der Rassentrennung. Schwartz stellt uns Henson als Reisenden vor. Vom Schiffsjungen zum Polentdecker; selbst wenn er einmal in den Vereinigten Staaten ist, die ihn als Schwarzen ausgrenzen, steht er nicht still, sondern arbeitet bei der Bahn. Noch im Alter arbeitet er als Reinigungskraft im New Yorker American Museum of Natural History, bewegt sich von Exponat zu Exponat, von Dioramaszene zu Dioramaszene. Selbst am Ende des Buches kann er nicht still sitzen und seinen Tod abwarten. So ist Schwartz’ Comic auch hoffnungsvoll: wo Bewegung ist, da ist auch Veränderung und möglicherweise Verbesserung.
Diese oder eine vergleichbar faszinierende Lebensgeschichte eines farbigen underdog, hat sich so oder ähnlich tausende Male abgespielt: weißer Herr, schwarzer boy. Schwartz hat verstanden, dass Dichte für seine Geschichte von großer Bedeutung ist. Es gelingt ihm, die verschiedenen Zeitebenen, Perspektiven und Handlungsstränge zu einem engen Geflecht zu verweben, in dem sie sich gegenseitig bespiegeln und so ihre Wirkung vervielfachen – und das zudem in großartigen Bildern und klugen Bildarrangements. Das gelingt so gut, dass man beim Lesen fröstelt und sich eine heiße Tasse Tee wünscht. Packeis macht das vielleicht nicht zu einem neuen Pol, aber bestimmt zu einem bemerkenswerten Punkt im Koordinatensystem deutschsprachiger Comics.