Zuerst veröffentlicht auf literaturundfeuilleton.wordpress.com, 1. März 2016.
Rodolphe Töpffer gilt als „Großvater der Comics“. Die Neuausgabe von zumindest drei seiner Geschichten macht bis auf ein Detail alles richtig.
Die Menschen wissen gerne, wann, wo und vor allem mit wem die Dinge ihren Anfang genommen haben, den primus movens. Gerne inszeniert man dafür einen oder mehrere Götter, die die Welt erschaffen haben und sich dann nicht mehr blicken lassen. Die Literaturgeschichte hat ihren Homer, die Fotografiegeschichte ihren Niépce und die Filmgeschichte ihren – nun, allerspätestens hier wird es kompliziert. Auch die Comic-Historiografie sucht die Väter der Comics. Mal greift man dazu – nach dem Motto Alter gleich Noblesse – aus bis zur Höhlenmalerei, mal findet man eine nationalverträgliche Ahnenfigur. In Deutschland ist das gerne Wilhelm Busch (1832–1908), der mit einer Vielzahl von Bildergeschichten und -bogen bekannt geworden ist, die bis heute gelesen werden (jüngst beging man in Bückeburg den 150. Geburtstag der beiden Lausebengel Max und Moritz). Die amerikanische Comicforschung hat sich dagegen mehr oder minder auf Richard Felton Outcault (1863–1928) geeinigt, dessen Yellow Kid zwar heute noch bekannt ist, in der Breite aber nicht gelesen wird. Outcaults Strips bieten sich einerseits an, weil er Sprechblasen verwendet, die Busch vielleicht aus älteren englischen Karikaturen kannte, selbst aber nicht genutzt hat. Andererseits lässt sich ein Medium kaum von seinen spezifischen historischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen ablösen, die beim Comic mit denen der Tageszeitung der Jahrhundertwende zusammenfallen. In Japan nennt man stattdessen gerne den Maler und Holzschnittkünstler Hokusai (1760–1849), dessen Werke teilweise auf den Manga vorausdeuten. Der frankofone Teil Europas hat dagegen Rodolphe Töpffer (1799–1846) ins Herz geschlossen, der mit keinem geringeren als Johann Wolfgang Goethe schon zu Lebenszeit einen mächtigen Fürsprecher hatte.
Altes Gehölz …
Töpffer war Schweizer, vielleicht könnte man sich deshalb auf ihn als ‚Neutralen‘ einigen, tatsächlich schrieb er seine Bildergeschichten aber auf Französisch und das macht ihn sicher in manchen Augen als Stammvater attraktiver. Zwar liest man in den einschlägigen Lexika des 19. Jahrhunderts, wo er zwischen Töpferzeug und Topfgewächsen einen Platz gefunden hat, er sei „bekannt durch seine Bilderromane“ (Pierer’s Universal-Lexikon, 1857), doch als Begründer des Comicmediums führt man ihn dort nicht. Klar, so eine Zuschreibung funktioniert immer nur rückblickend.
Was begründet also Töpffers Ruhm als Urvater der Comics? Diese Frage lässt sich nur essentialistisch beantworten. Die Essenz der Comics lässt sich in etwa so beschreiben: Sie erzählen eine Geschichte, indem sie die Handlung in mehrere Momente aufteilen, die relativ wenig zeitlichen Abstand zueinander haben, und in Szenen, die etwas größeren Abstand haben können. Diese Momente und Szenen werden bildlich dargestellt und die Bilder in Sequenzen angeordnet. Die Bedingungen, unter denen Töpffer Geschichten wie die Voyages et aventures du Dr Festus (1829) erzählt hat, sind gleichwohl ganz andere gewesen als die, unter denen Outcault und andere frühe Comiczeichner produzierten und gelesen wurden. In diesem Sinne war er sicher nicht der Erfinder des Comics, aber er hat (soweit wir wissen) als erster – und mit viel Geschick – solche Bildergeschichten erzählt, freilich unter Rückgriff auf zeichnerische Vorbilder wie Thomas Rowlandson (1756–1827) und erzählerische wie William Hogarth (1697–1764). Töpffers Geschichten sind unterhaltsame Bilder ihrer Zeit. Wenn er selbst der Urahn der Comics ist, dann sind die Herren Cryptogame, Pencil und Vieux Bois Ahnen der Screwball-Figuren, der notorischen Underdogs und Querköpfe wie Happy Hooligan, Yens Yensen oder George Washington Bings, die in den frühen Comics eine zentrale Rolle spielen. So stürzt sich Monsieur Vieux Bois aus unerwiderter Liebe in sein Schwert und hält sich zwei volle Tage lang für tot, bevor er vor Hunger fast stirbt. Dabei kann sich ungeachtet des spröd-trockenen Humors übrigens manche Comiczeichnerin und mancher -zeichner auch heute noch etwas abschauen von Töpffers kreativer Verschränkung von Erzählung und Bildausschnitt, bei dem die Bilder dynamisch mal breiter, mal schmaler werden.
… in neuer Aufmachung
Bei avant hat nun der als Comiczeichner bekannte Simon Schwartz (Packeis, 2012) drei Töpffer’sche Bilderromane neu herausgegeben. Die letzte deutsche Ausgabe hatte in den 1970ern Karl Riha für Insel besorgt. Legt man beide nebeneinander, fällt sofort der unschlagbare Vorzug der neuen Ausgabe auf: Sie ist fast viermal so groß wie die alte, die Töpffers Geschichten stark verkleinert wiedergegeben hatte. Zudem waren die originalen handschriftlichen Bildunterschriften (Sprechblasen hat auch Töpffer nicht verwendet) entfernt und durch deutsche Übersetzungen im Maschinensatz ersetzt worden. Töpffer erschien so in einer verstümmelten Form, denn seine Tuschzeichnungen – desgleichen die Bildtexte! – sind mit feiner Feder ausgeführt, denen eine Verkleinerung nur mäßig gut bekommt. Doch gerade hier will das Auge viel länger verharren als bei den Texten.
Schwartz und avant haben mit der Neuausgabe nun fast alles richtig gemacht: Großformatig, gut lesbar, mit französischen Originaltexten in Töpffers Handschrift und zusätzlich mit deutschen Übersetzungen, von einer Einführung des Herausgebers angemessen gerahmt – so sollte man Töpffer präsentieren und so kann man ihn der Leserschaft nicht nur als Großonkel der Comics wärmstens empfehlen. Möge Töpffer wie Busch auch wieder gelesen werden. Ein zweiter Band mit weiteren Geschichten wird sehnlichst erwartet! Dann hätte die Insel-Ausgabe vollends ausgedient.
Nur eine Sache, lieber Simon, lieber avant-verlag, wo habt Ihr das Inhaltsverzeichnis versteckt? Oder ist es Absicht, dass ich den Anfang einer Geschichte nur blätternd finde, um auf der Suche an dem einen oder anderen Bild hängen zu bleiben?
Rodolphe Töpffer: Die Liebesabenteuer des Monsieur Vieux Bois
avant-verlag, 280 Seiten
Preis: 39,95€
ISBN: 978-3-945034-28-6