Fußnoten zu zufälligen Fundsachen aus der Welt der Kinder- und Jugendliteratur (1): „Ich bin ein Regentropfen“

Zwei Gehminuten von meiner Wohnung steht eine 13 Meter hohe Replik des Eiffelturms und in ihrem Schatten eine umgebaute Telefonzelle. Statt des öffentlichen Telefonapparats schützt die Zelle ein Bücherregal, das zum Stöbern, Tauschen und Plaudern einlädt. Die Bücher, die hier angespült werden, sind von ganz unterschiedlicher Herkunft und Qualität, bedienen alle Altersgruppen und Genres. Mal sind es aktuelle Bestseller, mal Lese(zirkel)ausgaben von populären Romanen und Klassikern, schnell veraltende Gesetzestexte oder alte Zeitschriften. Immer wieder finden sich dort auch Jugend- und Kinderbücher.

Auf eines davon – Ich bin ein Regentropfen, 1976 auf Deutsch im Münchener Parabel Verlag erschienen – wurde ich aufmerksam, weil es eine interessante Eigenheit aufweist: Es enthält Sprechblasen. Das Buch ist 1974 auf Spanisch unter dem Titel Soy una gota bei Altea in Madrid erschienen. Der Text stammt von dem heute vor allem als Filmregisseur bekannten José Luis García Sánchez und dem Schriftsteller und Illustrator Miguel Fernández-Pachecodie. Illustrationen fertigte die spanische Illustratorin Asun Balzola (1942–2006) an.

Schon weil Schrift und Bild in Bilderbüchern strukturell, graphisch und nicht zuletzt produktionsseitig vielfach getrennt sind, gehören Sprechblasen, die diesen Unterschied nivellieren, nicht zum typischen Zeicheninventar von Bilderbüchern. Dazu kommen zumindest in Deutschland kulturelle Abgrenzungsbestrebungen zwischen Comics und Bilderbuch, die einer Konvergenz bis in die 1970er im Wege standen. Dass die Bilder von Ich bin ein Regentropfen Sprechblasen enthalten, ist insofern bemerkenswert. Bereits die erste Seite (Abb. 1) konfrontiert uns mit einem Dialog in Sprechblasen, es folgen ein auf diese Weise sprechender Brunnenbauer, sprechende Tropfen und Fische.

Das Buch ist aber auch für sich genommen interessant und gibt so doppelten Anlass für diese Fußnote.

Abb. 1

Sprechblasen in Bilderbüchern

Sprechblasen gelten zurecht als ein Merkmal von Comics. Sieht man von mittelalterlichen Spruchbändern ab, kommen den Sprechblasen ähnliche Gebilde seit dem späten 18. Jahrhundert unregelmäßig in der Visualsatire vor. Obwohl sie in den zahllosen europäischen Bildergeschichten des 19. Jahrhunderts nur ausnahmsweise verwendet wurden, werden Sprechblasen um 1900 im amerikanischen Zeitungscomic schnell etabliert und bald zu dem heute typischen Erzählmittel. Es entstehen zwar bald buchförmige illustrierte Adaptionen erfolgreicher Comicserien und einzelne Comiczeichner betätigen sich als Kinderbuchillustratoren (und vice versa), über eine nachhaltige Befruchtung des illustrierten Kinderbuchs durch die Comics dieser Zeit oder eine Wechselwirkung ist jedoch bislang m.W. nicht geforscht worden.

In jüngerer Zeit haben sich international Kinder- und Jugendbuchforschung sowie Comicforschung angenähert, um Bilderbuch und Comic vergleichend näher zu bestimmen. Die bisherige medienkomparatistische Forschung zu Bilderbuch und Comic beschränkt sich jedoch bislang überwiegend auf definitorische Fragen, indem sie sich mit dem Problem befasst, dass Definitionen des einen vielfach auch dass andere Medium erfassen und eine trennscharfe Unterscheidung auf dieser Ebene erschweren (vgl. Nel, Sanders, Grennan; s.a. Bachmann). Eingehende historische Forschungsarbeiten zum Austausch von Comic und Kinderbuch sind ein Desiderat, folglich wissen wir schlichtweg nicht genau wann und unter welchen Umständen Sprechblasen in Bilderbüchern relevant werden, welche Akteure (Illustrator_innen, Autor_innen, Verlage und Verlagsmitarbeiter_innen) dabei eine Rolle spielen. Die 1970er Jahre dürften dafür ein interessanter Untersuchungszeitraum sein.

Jaime García Padrino beschreibt die frühen 1970er als Wendepunkt in der Geschichte des illustrierten spanischen Kinderbuchs. Von einer Gruppe von Illustratoren, zu denen er außer Asun Balzola u.a. Miguel Ángel Pancheco, Jodé Ramón Sánchez, Viví Escrivá, Miguel Calatayud, Manuel Boix und Karin Schubert zählt (Padrino, S. 260), sei in dieser Zeit eine umfassende Modernisierung ausgegangen. Ihren Ausgang nimmt sie von der Reihe Primera Biblioteca Altea, in der neben ganz ähnlichen Büchern von unterschiedlichen Illustratoren auch Ich bin ein Regentropfen erscheint (Padrino, S. 269). Jens Thiele beobachtet in der gleichen Zeit einen Innovationsschub des Bilderbuchs auch in Deutschland, den er auf Impulse aus der Pop-art zurückführt (Thiele, S. 30).

In dieser Zeit setzt in der deutschen Forschung auch eine sukzessive Aufwertung der Comics ein. Gleichzeitig bringt der neugegründete Verlag Beltz & Gelberg – der den Parabel Verlag 2002 übernimmt – in den frühen 1970er Jahren Jugend- und Kinderbuch-Programme auf den Markt, die Comics, Bildergeschichten und illustrierte Erzählungen gleichberechtigt präsentieren – auch gemeinsam, zum Beispiel in der Reihe BilderBuch. Verleger Hans-Joachim Gelberg betont in einem Vorwort in deren ersten Band: „Sprache und Bild, Bild und Sprache gehören ursächlich zusammen. Kinder denken in Bildern, lange ehe sie das Denken in Sprache anfangen. In Bezug auf den Leser besteht kein Unterschied, ob ihn ‚wortlose‘ Bildgeschichten oder ein dickes Buch voller Geschichten beeindrucken. […] Comic-Lesen ist kein simpler Vorgang. Das Ineinanderfließen von Bild-Text-Sprech-Denk-Kombinationen: Handlung und Bewegung, Lautes und Leises, Tag und Nacht, Gegenwart und Vergangenheit signalisierend – wozu ein normaler Erzähler viele Buchseiten braucht, und selbst dann wird er immer nur hintereinander und nicht parallel erzählen können – gehört zum Handwerkszeug der Comics und erfordert geschulte Leser.“ (Gelberg, unpag.)

Heute sind Bücher, die auf die eine oder andere Weise zwischen Bilderbuch und Comic angesiedelt sind, durchaus üblich und erfolgreich; genannt sei hier beispielsweise Shaun Tan, dessen Bücher, speziell The Arrival (2006, dt. Ein neues Land) nicht nur in der deutschsprachigen Comicforschung als Graphic Novel rezipiert wird. Wie die Integration von Zeichen des einen Mediums in das Inventar des anderen verlaufen ist, muss allerdings noch erforscht werden. Denkbar ist, dass die Pop-art hierbei gleichsam als Elektrolyt fungiert hat, das die Übertragung von Zeichen aus dem einen Zeichensystem ins andere begünstigt hat. So haben bekanntlich Andy Warhol und Roy Lichtenstein Comics als Gegenstände ihrer Kunst und Werkzeuge ihrer Kulturkritik gewählt.

Ich bin ein Regentropfen ist also schon vor diesem Hintergrund ein interessanter Fall, denn das Buch steht zeitlich im Umfeld einer Neubestimmung des Bilderbuchs und des Comics und mag auf heute kaum noch bestimmbare Weise dazu beigetragen haben.

Ich bin ein Regentropfen

Wie andere Bücher illustriert Balzola Ich bin ein Regentropfen in einer amateurhaft wirkenden Aquarelltechnik. Das passt gut, denn schließlich handelt das Buch „von dem, was in den Wolken drin ist / und in den Meeren / und in den Flüssen / und in den Seen / und in noch Verschiedenem“, namentlich von Regentropfen, die sich cum grano salis auch in Wasserfarbzeichnungen finden lassen.

Das Sachbilderbuch erklärt aus der Sicht eines Regentropfens den Wasserkreislauf und die Bedeutung, die Wasser für die Menschen Mitte des 20. Jahrhunderts hat, insbesondere in Europa. (Dass es sich um einen ‚europäischen‘ Wassertropfen handelt, lässt sich nicht nur anhand der Baskenmützen zweier Figuren erraten, sondern vor allem daran, dass der Wassertropfen auf seiner Reise ahistorisch inszenierten, stereotypen nordamerikanischen Ureinwohnern begegnet, die als alteritär inszeniert werden, während die Baskenmützen-Figuren unmarkiert bleiben.)

Die Reise des Regentropfens beginnt und endet in einer Wolke über einem Schiff und mit der oben zitierten Selbstauskunft über den Buchinhalt, deren Wiederholung die Zirkularität der Handlung unterstreicht, die dem Kreislauf des Wassers entsprechen soll. Auf seiner Reise verschlägt es den Wassertropfen in einen Eimer, eine Harnblase, verschiedene Wasserläufe, einen Damm, ein Feuer sowie in eine Kanalisation. Dort begegnet ihm kurz vor dem Ende des Buches ein einbeiniger Spielzeugsoldat auf einem Papierboot.

Dieser intertextuelle Verweis auf Hans Christian Andersens Kunstmärchen legt eine Analogie der beiden Protagonisten nahe: Erstens ist der Zinnsoldat einer von vielen, die aus der gleichen flüssigen Masse gegossen werden:

„Es waren einmal fünfundzwanzig Zinnsoldaten alle Brüder, denn sie waren von einem alten zinnernen Löffel geboren. […] Der eine Soldat glich dem andern leibhaftig, nur ein einziger war zuletzt gegossen und da hatte das Zinn nicht ausgereicht; doch stand er eben so fest auf seinem einen Bein, als die andern auf ihren zweien, und grade er ist es, der merkwürdig wurde.“ (Andersen, S. 48)

Zweitens geht der Zinnsoldat auf eine Reise zu Wasser, die (zumindest zunächst) ebenso kreisförmig verläuft wie die des Wassertropfens:

„Nun fing es an zu regnen; bald fielen die Tropfen dichter; endlich ward es ein Platzregen. Als er vorüber war, kamen zwei Straßenbuben. ‚Sieh einmal!‘ sagte der eine, ‚da liegt ein Zinnsoldat! Der muß hinaus und auf dem Kahne fahren!‘ Da machten sie einen Kahn von einer Zeitung, setzten den Soldaten mitten in denselben, und nun segelte er den Rinnstein hinunter“ (Andersen, S. 50).

An dieser Stelle setzt das Bilderbuch die intertextuelle Schnittstelle zu Andersens Text: Der Regentropfen ist ein Teil eben jener Fluten, die den Spielzeugsoldaten auf seinem Zeitungskahn forttragen.

Drittens kehrt am Ende des Märchens der Soldat – ebenso zufällig wie der Regentropfen wieder ins Meer gelangt – zurück in die Wohnung, von der seine Reise mit einem Fenstersturz – jenes ur-europäischen Ereignisses – ihren Ausgang genommen hatte.

Das letzte Bild (Abb. 2), auf dem ein überlagernder Text noch einmal insistiert, dies sei ein Buch über Regentropfen, zeigt groß den Zinnsoldaten. Mit roten Wangen und freundlichem Lächeln steht er standhaft an Deck des in das Bild montierten Papierschiffchens. Es ist erkennbar ‚gefaltet‘ aus der Einbandillustration einer 1964 bei Paul Hamlyn in London erschienenen illustrierten Ausgabe von Alfred Lord Tennysons berühmten Gedicht The Charge of the Light Brigade. Dieser Bucheinband präsentiert sich als fingierte historische Titelseite der Extraausgabe zum Krimkrieg eines „London Evening Star“ datiert auf den 25. Oktober 1854, den Tag der desaströsen Attacke (Abb. 3). Bekanntlich thematisiert Tennyson den zum Scheitern verurteilten Angriff der leichten Kavallerie unter Lord Cardigan auf eine russische Artilleriestellung in der Schlacht von Balaklawa. Das glorifizierende Gedicht macht keinen Hehl aus der Vergeblichkeit und blutigen Realität des Unterfanges: „‚Forward, the Light Brigade! / ‚Charge for the guns!‘ he said: / Into the valley of Death / Rode the six hundred.” (Tennyson, S. 354) Ein Großteil der fünf Husaren- und Dragoner-Regimenter umfassenden Brigade wird bei dem Angriff aufgerieben, hunderte Männer und Pferde sterben im Kugel- und Kartätschenhagel. Der Angriff wird zum Militär- und Männermythos, der in Malerei, Literatur und Film bis heute aufgegriffen wird, vielfach vermittelt über Tennysons Gedicht. – Eine verblüffende Auswahl für ein Sachbilderbuch über Regentropfen, die Rätsel aufgibt. Ein klassischer Stoff für Bilderbücher ist das nicht. Womöglich äußert sich hier der aber gleiche düstere Humor, der auch Andersens Märchen auszeichnet, in dem am Ende der Zinnsoldat, heimgekehrt von seiner Odyssee, grundlos von einem Jungen in den Ofen geworfen wird, wo er schmilzt und seine Braut, hineingeweht von einem zufälligen Wind, verbrennt. Kann der Regentropfen ein Feuer am Ende seines Buches löschen, wird der Zinnsoldat darin zu einem Herzen eingeschmolzen und so ist die Reichweite der Analogie letztlich begrenzt. Umso erstaunlicher ist der intertextuelle Verweis – speziell unter Rückgriff auf das martialische Kriegsgloriengedicht von Andersens Zeitgenossen Tennyson.

Literatur

Andersen, Hans Christian: Der standhafte Zinnsoldat. In: Ders.: Sämmtliche Märchen. Einzige vollständige vom Verfasser besorgte Ausgabe. 24. Aufl. Leipzig 1882, S. 48–52.

Bachmann, Christian A.: Bilderbuch und Comic im Dialog. Paul Kirchners und Guy Billouts Geschichten über Busse – ein Fallbeispiel. In: Tobias Kurwinkel / Corinna Norrick-Rühl / Philipp Schmerheim (Hg.): Die Welt im Bild erfassen. Multidisziplinäre Perspektiven auf das Bilderbuch. Würzburg 2020, S. 147–163 [im Druck].

Gelberg, Hans-Joachim: [Vorwort]. In: Hans-Joachim Gelberg (Hg.): Bilderbuch Nummer 1. Weinheim/Basel 1973, unpag.

Grennan, Simon: Plot, picture and practice: Comics, picture books and illustrated literary fiction, 01.07.2014, http://chesterrep.openrepository.com/cdr/handle/10034/604019 (Zugriff: 04.03.2020).

Nel, Philip: Same Genus, Different Species? Comics and Picture Books. In: Children’s Literature Association Quarterly 37.4 (2012), S. 445–453.

Padrino, Jaime García: Formas y colores: la ilustración infantil en España. Cuenca 2004.

Saguisag, Lara: Picturebooks and Comics. In: Bettina Kümmerling-Meibauer (Hg.): The Routledge Companion to Picturebooks. London/New York 2018, S. 315–324.

Sánchez, José Luis Garcá (Text)/Miguel Angel Pacheco (Text)/Asun Balzola (Illu.): Ich bin ein Regentropfen. München 1976.

Sutliff Sanders, Joe: Chaperoning Words: Meaning-Making in Comics and Picture Books. In: Children’s Literature 41.1 (2013), S. 57–90.

Tennyson, Alfred: The Charge of the Light Brigade. In: The Poetical Works. Household Edition. Boston/New York [1895], S. 354–355.

Thiele, Jens: Das Bilderbuch. Ästhetik – Theorie – Analyse – Didaktik – Rezeption. Oldenburg/Bremen 2000.